Maria steht vor den anderen Teilnehmer*innen des Workshops und stellt sich vor. „Ein Gedanke, der immer wieder kommt und der mich manchmal ganz schön fertig macht, ist, dass ich vielleicht zu viel von meinem ersten Job nach der Uni erwarte. Ich will natürlich, dass mir meine Arbeit Spaß macht, dass ich da Dinge tun kann, die ich interessant finde. Ich will keine Stagnation, sondern immer wieder Neues lernen. Jetzt im Studium kann ich das. Aber wenn ich mir so die Stellenanzeigen durchlese oder von anderen höre, was die so arbeiten, dann denke ich immer häufiger, dass es nach meinem Studium nur noch bergab gehen wird.“
Solche und ähnliche Befürchtungen höre ich oft. Kommen sie dir vertraut vor?
Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass meine Abneigung vor Stellenanzeigen viel damit zu tun hatte, dass mir die Aufgabenbeschreibungen oft sehr unattraktiv erschienen: monoton, bürokratisch, weit entfernt davon, was ich mir unter „etwas bewirken“ vorstellte. Und das wollte ich unbedingt. Ich wollte etwas bewirken, möglichst etwas, das andere Menschen weiterbringt. Etwas, das andere dazu anregt, etwas Neues über sich zu lernen und ihnen Mut macht, dieses Neue auszuprobieren. Weil ich glaube, dass eigenmotiviertes Lernen (im weitesten Sinne) glücklich macht. Und weil ich überzeugt bin, dass Menschen, die glücklich sind, eher Gutes in die Welt bringen als Menschen, die unglücklich sind. Und Gutes – davon braucht unsere Welt eine ganze Menge.
(So viel zu meinem Mission Statement.)
Zurück zu meiner Ausgangsfrage: Ist es nun gut oder schlecht, hohe Erwartungen an den Job zu haben?
Die kurze Antwort lautet: Weder noch und sowohl als auch. Bzw.: Es kommt auf den Blickwinkel an. Der wiederum hat neben den äußerlichen Umständen viel mit deiner charakterlichen Ausstattung zu tun.
Meine Freundin zum Beispiel geht beeindruckend erwartungsfrei durchs Leben. Ob Familienfeste, Arbeit oder Verabredungen: Sie lässt alles mit einer scheinbar angeborenen Gelassenheit und Offenheit auf sich zukommen und genießt so den unschlagbaren Lebensvorteil, äußerst selten enttäuscht zu sein. Allerdings hat sie gut Reden, denn sie fühlt sich in ihrem Leben, und dazu gehört ihre Arbeit, sehr wohl. Sie mag ihre Kolleginnen, hat Aufgaben, die sie interessieren und die sie in einem gesunden Maße herausfordern, und findet ihre Arbeit sehr sinnstiftend.
Die Frage, die ich mir an diesem Punkt in meinen Überlegungen immer stelle: Ist meine Freundin frei von Erwartungen, weil sie ohnehin schon mit ihrer Lebens- und Arbeitssituation zufrieden ist? Oder ist sie damit zufrieden, weil sie auf wundersame Weise frei von Erwartungen ist?
Im Gegensatz zu meiner Freundin mache ich mir das Leben aus Prinzip schwerer, als es sein müsste. Erwartungsgemäß schrecklich war die Zeit nach meiner Promotion, in der ich eine Anschlusstätigkeit suchte, die mir mindestens genauso viel Spaß machen sollte, wie das Studieren und Promovieren (beides machte mir sehr viel Spaß). Meine Mindestanforderungen an meinen Job waren:
- ein hohes Identifikationspotenzial
- herausfordernde Aufgaben, auf die ich Lust hatte und an denen ich wachsen konnte,
- ein soziales Umfeld, in dem ich mich wohl fühlte,
- und genug Einkommen, um davon sorgenfrei leben zu können.
War das etwa zu viel verlangt? Schließlich war das nicht mehr als das, was meine Freundin schon genoss. Und nicht nur sie. Die meisten der 25 Menschen, die ich für mein Buch interviewte, schienen ähnlich zufrieden mit ihrer Arbeit zu sein. Gleichzeitig war unter ihnen niemand, mit dem ich unbedingt hätte tauschen wollen. Ich wollte keine Lektorin werden, keine Journalistin, keine Wissenschaftsmanagerin, keine Stiftungsreferentin, keine Marketing-Managerin, und keine Sales-Managerin. Das entsprach alles nicht meinen eigenen Erwartungen an den Job, der zu mir passte.
Die einzige Ausnahme war Maren Drewes, die als selbständige Kommunikations- und Strategieberaterin arbeitete. Natürlich interessierte mich der Weg am meisten, der am steinigsten zu werden versprach. Selbständig sein. Als Beraterin, Trainerin oder Coach arbeiten. Aus dem Stand. Ohne relevantes Netzwerk.
Steinig ist genau der richtige Ausdruck. Zwei Jahre lang gab es immer wieder Momente, in denen ich drauf und dran war, mir doch einen „richtigen“ Job zu suchen. Also ein sozialversicherungspflichtiges Verhältnis einzugehen, wie es so unschön in der Sprache des Arbeitsrechts heißt. Ich schickte sogar die eine oder andere Bewerbung ab. Wenn daraus etwas geworden wäre, dann wäre ich ganz sicher schwach geworden. Denn lange Zeit war ich weit entfernt davon, als Selbständige das zu verdienen, was ich mir als Mindesteinkommen vorstellte.
Von den vier Dimensionen, die für mich erfüllt sein sollten, war eine – das Geld – nicht erfüllt. Bei dir wird es vielleicht eine andere Dimension sein. Vielleicht wird es dir an Identifikationspotenzial mangeln, vielleicht werden dich die Aufgaben anöden, oder das soziale Umfeld erzeugt Unbehagen in dir. Vielleicht werden auch mehrere Dimensionen gleichzeitig nicht erfüllt sein.
Heißt das, dass deine Erwartungen zu hoch sind?
Zu hoch sind sie nur dann, wenn du nichts an deiner Situation änderst. Denn dann wirst du permanent unzufrieden sein. An manchen Tagen mehr und an anderen weniger. Irgendwann wird dir deine Unzufriedenheit dann nicht mehr so wichtig erscheinen. Oder normal. Du wirst dich daran gewöhnen. Und das – so sehe ich das jedenfalls – ist der Anfang vom Ende.
Wenn du aber merkst, dass deine Erwartungen nicht erfüllt sind und du deswegen unzufrieden bist, dann verzag nicht. Freu dich stattdessen über deine Unzufriedenheit, denn sie weist dir den Weg in die richtige Richtung.
Oscar Wilde soll gesagt haben:
Unzufriedenheit ist der erste Schritt zum Erfolg.
Sehr wahrscheinlich, dass Oscar Wilde das sarkastisch meinte. Aber versuch einmal, diesen Satz ganz ohne Sarkasmus zu verstehen. Dann kannst du daraus ein paar sehr hilfreiche Schritte ableiten:
- Identifiziere die Quelle deiner Unzufriedenheit. Was davon liegt im Außen? Was in dir?
- Identifiziere das Bedürfnis, das unerfüllt ist.
- Stell dir vor, wie du dich fühlen würdest, wenn dieses Bedürfnis erfüllt wäre.
- Nun überlege dir drei realistische Szenarien – also Szenarien, die du selbst bewirken könntest – in denen dieses Bedürfnis erfüllt wäre.
- Nun überlege Folgendes: Wie müssten deine Ziele aussehen, um eines dieser Szenarien zu verwirklichen? Was wären die nächsten Schritte?
Zu hohe Erwartungen sind also nicht per se schlecht. Sie können sogar gut sein, wenn sie dich dazu motivieren, dich oder die Umstände deines Lebens zum Besseren zu verändern. Sie können aber auch schlecht sein, nämlich dann, wenn du nichts änderst oder aber wenn deine Erwartungen sich ständig ändern, nur damit du auch schön unzufrieden bleiben kannst.
Bei mir war es letztendlich so: Die immer wiederkehrenden Zweifel und der Wankelmut – gespeist aus meiner dahinwabernden Unzufriedenheit – hatten erst in dem Moment ein Ende, als ich genau diese fünf Schritte gegangen bin. Erst auf Papier. Und danach ganz real. Und das hat tatsächlich geklappt.