In meinem letzten Artikel habe ich ja behauptet, Geisteswissenschaftler*innen stünden vor allem vor dem Problem der unendlichen beruflichen Möglichkeiten. Selbstverständlich höre ich oft genau das Gegenteil:
„Als Geisteswissenschaftlerin kann ich doch froh sein, wenn ich überhaupt einen Fuß auf den Arbeitsmarkt kriege. Da darf ich keine hohen Ansprüche haben.“
Diese Haltung scheint weit verbreitet zu sein. Doch natürlich ist weder die eine noch die andere Aussage wahr oder falsch. Es geht dabei ganz fundamental um eine Frage der Einstellung.
In diesem Artikel möchte ich dir beispielhaft 5 Jobs vorstellen, die tatsächliche Menschen mit einem echten geisteswissenschaftlichen Studienabschluss ausüben und die nicht den „typisch“ geisteswissenschaftlichen Berufsfeldern entsprechen. (Dazu kommt nächste Woche ein Artikel.) Wozu das gut sein soll? Je mehr du dich mit alternativen Karrierewegen beschäftigst, desto mehr wirst du dein Bewusstsein dafür trainieren, dass (fast) alles möglich ist.
Fangen wir an.
Head of Sales und Business Development indurad GmbH (Bergbauindustrie) – Christian Augustin (Studium: Geschichte, Philosophie, Germanistik)
Christian verkauft mit seiner Firma Radarmodule für Betreiber von Minen.
Christian ist 220 Tage im Jahr unterwegs, vor allem in Lateinamerika und Asien. Auf den ersten Blick hat seine heutige Tätigkeit überhaupts nichts mit seinen Studienfächern zu tun. Doch Christian widerspricht:
„Tatsächlich betrachte ich das, was meine Kunden mir sagen, ein bisschen wie einen historischen Quelltext. Der enthält viele Informationen, aber noch mehr Hinweise, wo ich noch überall nachforschen muss, um den Sachverhalt ganz und gar zu durchdringen. Genau darum geht es bei meiner jetzigen Arbeit auch: Um unseren Kunden den bestmöglichen Dienst zu erweisen, muss ich ihr Problem völlig verstehen. Nur dann kann ich eine Lösung anbieten, die nachhaltig befriedigt.“
Als Gründer und Geschäftsführer von mittlerweile zwei technologiegetriebenen Unternehmen (indurad und Yardeye) sowie als promovierter Geisteswissenschaftler weiß Christian interdisziplinäre Perspektiven zu schätzen. Gerade in Vertrieb und Marketing werden kluge Köpfe mit Kommunikationstalent und analytischem Geschick immer gesucht.
Tangotänzer (Kunst und Kultur) – Rafael Busch (Studium: Germanistik, Soziologie)
Rafael ist seit 10 Jahren gemeinsam mit seiner Frau und Tanzpartnerin Susanne Opitz Gründer und Inhaber des Tangostudios tangotanzenmachtschön. Zum Tanzen kam er kurz vor seinem Abi: Standard, Latein, Ballett, Tango, Showtanz. Für ihn war das Tanzen die längste Zeit ein beflügelndes, zeitintensives Hobby. Aber eben immer ein Hobby. Nach Studienende begann er eine Stelle im Dialogmarketing bei einer Telekomtochter und wurde schnell Abteilungsleiter. Er arbeitete viel. Aber viel Spaß machte es ihm schon lange nicht mehr. Er war kurz vorm Burnout, als er sich daran erinnerte, wie viel Kraft ihm das Tanzen immer gegeben hat. Also fing er wieder an, Tango zu tanzen, traf Susanne, und einige Jahre später eröffneten sie ihr eigenes Tanzstudio.
Was sein Studium ihm gebracht hat?
„Die Inhalte sind alle weg. Aber was mir vom Studium geblieben ist, ist der Mut und die Bereitschaft, mich selbst immer wieder zu fragen: Ist es das, was ich wirklich will? – In gewisser Weise der Mut, auch gegen den Strom zu schwimmen und meinem Gefühl zu vertrauen.“
Software-Developer (IT-Branche) – Max Seeger (Studium: Philosophie)
Nach seiner Promotion wusste Max nur, dass er nicht weiter in der Wissenschaft bleiben wollte. Er war völlig offen dafür, in welche Richtung es nun gehen sollte. Nur Waffenindustrie und Automobil, das wollte er nicht. Nach einem Jahr fruchtloser Bewerbungsversuche traf er auf einer Party einen Bekannten, der ihm von dieser kleinen Firma erzählte, die promovierte Quereinsteiger zu Business Intelligence Consultants ausbildeten. Das sind Berater*innen, die darauf spezialisiert sind, große Datenmengen von großen Unternehmen zu analysieren und zu interpretieren.
Dort fing Max an. Sein erster Job nach der Wissenschaft erfüllte erstaunlich viele von Max‘ Wünschen. Er durfte den ganzen Tag knifflige Probleme lösen, mit logischen Operatoren umgehen, hatte interessante Entwicklungsmöglichkeiten, und das in einem sehr freundlichen, teilweise nerdigen Team. Das Einzige, was nicht seiner Vorstellung entsprach, war die Branche, in der er zuerst eingesetzt wurde: Automobil. Ironie des Schicksals? Auf jeden Fall war es auch ein solider Start in ein aufregendes, sich ständig wandelndes Berufsfeld mit unendlich vielen Möglichkeiten.
Heute arbeitet Max als IT-Projektmanager bei Giantmonkey, einem jungen Software Development Startup, wieder mit sympathischen Kolleg*innen, unter denen sich auch die eine oder der andere Quereinsteiger*in befindet.
Falls du noch mehr über die Möglichkeiten von Geisteswissenschaftler*innen in der IT – und in technologiezentrierten Unternehmen allgemein – erfahren möchtest, empfehle ich dir diesen TED-Talk mit Eric Berridge: Why tech needs the humanities.
Gründerin und Geschäftsführerin eines Sozialunternehmens – Katja Urbatsch (Studium: Publizistik, Amerikanistik)
Ein Unternehmen zu gründen gehört für die wenigsten Geisteswissenschaftler*innen, die ich kenne, zur beruflichen Zielsetzung. Ich vermute, das liegt zumindest teilweise an einer Reihe von Vorurteilen über das Unternehmertum: Kapitalismus (buh!), Neoliberalismus (böse!), BWL (bloß nicht!). Okay, das ist nun wiederum von mir eine pauschale Verunglimpfung der Geisteswissenschaftler*innen, die es natürlich so genauso wenig gibt, wie die Unternehmer*innen.
Eine Unternehmerin, die ich für mein Buch interviewen durfte und die in vielerlei Hinsicht eine Ausnahmeunternehmerin ist, heißt Katja Urbatsch. Vielleicht kennst du sie schon und wenn nicht, solltest du sie kennen, vor allem wenn du Erstakademiker*in bist. Denn Katja hat arbeiterkind.de gegründet, eine gemeinnützige Organisation, die sich der Chancengleichheit für Erststudierende verschrieben hat.
Wenn du selbst nicht gerade eine Idee für ein eigenes Unternehmen hast, du aber die Vorstellung, innerhalb eines Unternehmens einen Beitrag zu einer besseren Welt zu leisten, spannend findest, dann erkunde dieses Feld weiter. Gute erste Anlaufstellen sind:
Leitung Unternehmenskommunikation (Automobil) – Katja Hallbauer (Studium: Soziologie)
Zu guter Letzt möchte ich noch ein Berufsfeld vorstellen, das gar nicht so abwegig ist, aber das mir in meinen Trainings für Geisteswissenschaftler*innen bisher trotzdem noch nie als Berufswunsch untergekommen ist. Und schon gar nicht in dieser Branche. Ich möchte hier gar keine Lanze für die Automobilindustrie brechen (auch wenn ich dort sehr viel Bewegung beobachte, ausgelöst durch Skandale, Klimawandel und neueste technische Entwicklungen, was ich durchaus spannend finde). Wohl aber möchte ich eine Lanze für die Industrie insgesamt brechen. Energiewirtschaft, Luft- und Raumfahrt, Biotechnologie, Lebensmittelindustrie, Pharma, Wasser, Abwasser, Entsorgung, … das sind nur einige der Industriezweige, die maßgeblich unser Leben und unsere Gesellschaft gestalten. Ob wir das wollen oder nicht: was in diesen Unternehmen passiert, wie dort gearbeitet und kommuniziert wird, all das hat einen Einfluss auf unsere Lebenswelt. Wenn es auch nur eine dieser Branchen nicht gäbe, würden wir das sofort merken – and probably not in a good way.
Für viele, die ein geisteswissenschaftliches Studium absolvieren, ist der Wunsch, komplexe menschliche Systeme wie Sprache, Kultur, und Gesellschaft zu verstehen, eine Hauptmotivation. Wen diese Motivation trägt, der*die findet im großen Feld der Unternehmenskommunikation vielleicht Anregung und Inspiration für die eigene berufliche Entwicklung.
Mehr zum konkreten Berufsweg von Katja Hallbauer erfährst du auf dieser großartigen Seite:
https://www.mehralstaxifahren.de/interviews/katja-hallbauer/
Mehr über Katja Urbatsch, Max Seeger, Christian Augustin und Rafael Busch erfährst du in meinem Buch.